ADAC Test: Lkw-Notbremsassistenten können Leben retten
Können schwere Unfälle mithilfe von Lkw-Notbremsassistenten vermieden werden? Der ADAC hat 2017 drei Lkw-Modelle von Volvo, MAN und Mercedes getestet. Das eindeutige Ergebnis und aktuelle Empfehlungen des Clubs.
Immer wieder kommt es zu schweren Lkw-Auffahrunfällen an Stauenden. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber eine Ausrüstungspflicht mit automatischen Notbremsassistenten für Lkw vorgeschrieben. Diese trat 2015 zunächst für neu zugelassene Lkw über acht Tonnen in Kraft und 2018 für alle Neufahrzeuge über 3,5 Tonnen.
Die gesetzlichen Anforderungen an Notbremssysteme sind jedoch recht moderat formuliert. So müssen die Systeme bei stehenden Hindernissen lediglich 20 km/h aus den 80 km/h Fahrgeschwindigkeit abbauen. Das würde eine Kollision der bis zu 40 Tonnen schweren Fahrzeuge mit immer noch 60 km/h bedeuten.
Um die technischen Möglichkeiten schwerer Lkw zu untersuchen und die Vermeidbarkeit der häufigsten und gefährlichsten Lkw-Unfälle durch aktive Sicherheitssysteme in Serienfahrzeugen zu belegen, haben die ADAC Experten 2017 beispielhaft drei Lkw-Notbremssysteme untersucht.
So lief der Test ab
Im Test wurden auf Basis der ADAC Unfallforschung Fahrversuche mit schweren Lastkraftwagen (über 7,5 t) durchgeführt, um einerseits die Wirksamkeit von Fahrerassistenzsystemen in unfallträchtigen Situationen zu überprüfen sowie andererseits die aktuelle Leistungsfähigkeit der Systeme festzustellen. Außerdem wurde deren Tauglichkeit in der Fahrpraxis untersucht.
Der Test bestand aus zwei Modulen – dem Sicherheitsmodul und dem Praxismodul. Im Sicherheitsmodul wurden die Fahrerassistenzsysteme überprüft, im Praxismodul sollten Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag von Lkw-Fahrern gewonnen werden. Beiden Modulen lag jeweils eine theoretische Annahme zugrunde.
Testergebnisse Sicherheitsmodul
Hersteller | Modell | Stand: Modell | Hindernis | Bemerkung/Erkenntnis |
---|---|---|---|---|
Volvo | FH 540 | 2016 | Stationäres Hindernis Langsam fahrendes Hindernis Bremsendes Hindernis | Unfallvermeidung bis 70 km/h* Unfallvermeidung bis 80 km/h Unfallvermeidung |
MAN | TGX | 2017 | Stationäres Hindernis Langsam fahrendes Hindernis Bremsendes Hindernis | Unfallvermeidung bis 80 km/h Unfallvermeidung bis 80 km/h Unfallvermeidung |
Mercedes | Actros | 2017 | Stationäres Hindernis Langsam fahrendes Hindernis Bremsendes Hindernis Abbiegen Fußgängererkennung | Unfallvermeidung bis 80 km/h Unfallvermeidung bis 80 km/h Unfallvermeidung Warnung Warnbremsung – Vermeidung bis 20 km/h |
Annahme für das Sicherheitsmodul: Die aktuelle Lkw-Technik kann lediglich eine automatische Verringerung der Geschwindigkeit um wenige km/h erreichen, die Anforderungen aus der Gesetzgebung sind zu hoch.
Ergebnis: Aktuelle Lkw verwenden intelligente Sensorik und Logarithmen, die eine Unfallvermeidung bis 80 km/h selbst bei dem kritischsten Fall des stationären, also stehenden Hindernisses leisten. Die Bremswirkung ist der eines Pkw ebenbürtig.
Testergebnisse Praxismodul
Hersteller | Modell | Stand: Modell | Verkehrssituation | Warnungen |
---|---|---|---|---|
Volvo | FH 540 | 2016 | Spurverlassen | "Rumplestripe" auf jeweiliger Seite, geschwindigkeitsabhängig |
Spurwechsel | "Hupwarnung" bei Fahrzeug rechts | |||
Auflaufen | Vorwarnung, Teilbremsung bei sehr dichtem Auffahren | |||
Überholen | Keine Warnung, normales Fahren möglich | |||
MAN | TGX | 2017 | Spurverlassen | "Rumplestripe" auf jeweiliger Seite |
Spurwechsel | Nicht vorhanden | |||
Auflaufen | Vorwarnung, Teilbremsung bei sehr dichtem Auffahren | |||
Überholen | Keine Warnung, normales Fahren möglich | |||
Mercedes | Actros | 12/2016 | Spurverlassen | "Nagelstreifen" auf jeweiliger Seite |
Spurwechsel | Akustische Warnung bei Fahrzeug rechts | |||
Auflaufen | Vorwarnung, Teilbremsung bei sehr dichtem Auffahren | |||
Überholen | Keine Warnung, normales Fahren möglich | |||
Querender Fußgänger | Vorwarnung, Teilbremsung | |||
Rechtsabbiegen | Akustische Warnung bei Objekt / Fahrrad rechts |
Annahme für das Praxismodul: Die Assistenzsysteme sind im Alltagsbetrieb eines Lkw so "nervend", dass die Fahrer diese in der Regel immer deaktivieren möchten.
Ergebnis: Die Warnungen sind im Praxismodul zu jedem Zeitpunkt plausibel. Die Warnung für das Auflaufen (Notbremsassistenz) wird zu einem sehr späten Zeitpunkt aktiviert, sodass diese im normalen Verkehrsgeschehen nicht oft auftreten sollte. Die Spurverlassenswarnung reagiert ebenfalls nur bei deutlichem Abkommen und stellt für den Fahrbetrieb mit Ein- und Ausscheren kein Problem dar. Neben dem Einscheren anderer Fahrzeuge wurde auch der "normale" Lkw-Überholvorgang untersucht. Es traten keinerlei Fehlauslösungen auf.
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Gesamtergebnis des ADAC Tests
Alle untersuchten Lkw leisteten deutlich mehr, als der Gesetzgeber verlangt. Es wurden nicht nur weit höhere als die gesetzlich vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbeträge abgebaut, die Leistung der automatischen Notbremssysteme übertraf sogar die von Pkw, die im Euro NCAP gut abgeschnitten haben. Die Lastzüge kamen aus 80 km/h hinter einem stehenden Hindernis automatisch und vollständig zum Stehen (Volvo aufgrund der Sensorpositionierung im Verhältnis zum Hindernisobjekt aus bis 70 km/h).
Teilweise verfügten die getesteten Fahrzeuge noch über weitere Assistenzsysteme, die ebenfalls typische Lkw-Unfälle vermeiden können, wie z.B. Abbiegeassistenten, die Fußgänger und Radfahrer beim Rechtsabbiegen erkennen.
Im Test wurde anhand alltäglicher Fahrsituationen festgestellt, wie robust und plausibel das Warnverhalten der Sicherheitssysteme ausgelegt wurde und wie häufig Warnungen auftraten. Das Ergebnis: Warnungen wurden nur dann ausgelöst, wenn es wirklich notwendig war und unsichere Situationen drohten.
Des Weiteren zeigte sich, dass sich der automatische Notbremsassistent (AEB) bei normalen Fahrten nicht bemerkbar macht – lediglich der Abstandsregeltempomat (ACC). Ein Abschalten des Notbremssystems AEB ist aus diesem Grund unwahrscheinlich und absolut unnötig.
Alle ADAC Tests in der Übersicht
Fazit
Die im Test eingesetzten Lkw verfügten über intelligente Sensorik und Algorithmen für die automatischen Notbremssysteme, die eine Unfallvermeidung bis 80 km/h selbst im kritischsten Fall eines stationären Hindernisses – also etwa am Stauende – leisten. Die Bremswirkung ist der eines Pkw ebenbürtig.
Aus den Tests, den gewonnenen Erfahrungen sowie aus Gesprächen mit Experten und Fahrern zeichnete sich ab, dass eine Deaktivierung des Notbremsassistenten im Alltagsbetrieb als sehr unwahrscheinlich erscheint. Belastbare Zahlen hierzu gibt es allerdings nicht. Auf jeden Fall ist die Deaktivierung unnötig und nicht sinnvoll.
Eine Reaktion des automatischen Abstandsregeltempomaten (ACC) trat immer wieder auf – dieses Komfortsystem wurde mehrfach deaktiviert oder übersteuert. Wichtig zu wissen: Das ACC arbeitet unabhängig vom automatischen Notbremssystem (AEB).
Die gesetzlichen Anforderungen an Lkw-Notbremssysteme liegen deutlich unter den technischen Möglichkeiten.
Empfehlungen des ADAC zu Lkw-Notbremssystemen
Der ADAC hat die verpflichtende Einführung von Lkw-Notbremssystemen jahrelang gefordert, bewertet sie sehr positiv und erwartet jetzt eine rasche Marktdurchdringung. Nur so können Unfälle und somit auch die Unfallfolgen effektiv reduziert werden. Die aktuelle Ausrüstungsvorschrift schafft bereits die Grundlage dafür, jedoch sind die Anforderungen an Notbremsassistenzsysteme noch zu zurückhaltend formuliert.
Eine Kollisionsvermeidung bei allen auftretenden Konstellationen sollte angestrebt werden.
Die Notbremsassistenzfunktion sollte permanent verfügbar sein. Ein manuelles Abschalten des Notbremsassistenzsystems ist, wie die ADAC Untersuchungen gezeigt haben, unnötig und sollte nicht zulässig sein. Eine situationsbedingte Unterbrechung sollte nur kurzzeitig möglich sein, wobei hier eine automatische Wiedereinschaltung vorzusehen ist.
Für die weiterhin notwendige Übersteuerbarkeit der Notbremsassistenzfunktion sollten nur bewusste Fahreraktionen, wie z.B. Lenk- oder Bremsaktionen, zulässig sein. Speziell ein Übersteuern der eingeleiteten Notbremsung sollte nicht zu deren "Abbruch" führen und nicht versehentlich ausgelöst werden können.
Um Fahrer möglichst zuverlässig vor Kollisionen warnen zu können, ist die Identifikation von Fahrzeugen weiter zu verbessern. Auch kleinere Fahrzeuge, etwa Zweiräder, und Fußgänger sollten erkannt werden und bei Bedarf zu Warnungen und Notbremsungen durch das System führen.
Um Fahrern in kritischen Situationen die Möglichkeit zu geben, eine drohende Auffahrkollision mit bewussten Aktionen selbst zu beherrschen, ist die Kollisionswarnung um eine zeitlich vorgelagerte Abstandsinformation zu ergänzen.
Bis zur Umsetzung dieser Empfehlungen wird Lkw-Fahrern dringend geraten, eine optional installierte Abschaltbarkeit nicht oder nur in speziellen Betriebsbedingungen zu nutzen. Gleichzeitig wird empfohlen, einen verbauten Abstandsregeltempomaten und/oder Abstandswarner grundsätzlich zu nutzen.
Flottenbetreiber sollten ihre Lkw mit allen verfügbaren Sicherheitssystemen ausstatten lassen, um die Lkw-Fahrer und andere Verkehrsteilnehmer bestmöglich zu schützen.
Lkw-Fahrer müssen mit der Wirkung von Notbremsassistenten in geeigneter Weise vertraut gemacht werden. Dementsprechend sollten die Richtlinien für die Berufskraftfahrer-Weiterbildung angepasst werden.
Lkw-Hersteller sollten die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen zu den wichtigsten Szenarien weiter vorantreiben. Hierzu zählen insbesondere neben Notbremsassistenzsystemen Spurhalteassistenz/Straßenkantenerkennung, Rechtsabbiegeassistenz, Fußgängererkennung mit Notbremsfunktion, Erkennung von Zweirädern, Abbiege-/Kreuzungsassistenz sowie Multikollisionsbremsen.
Basierend auf den Erkenntnissen der ADAC Unfallforschung werden Fahrversuche mit Lkw durchgeführt. So soll überprüft werden, wie wirksam die Fahrerassistenzsysteme bei unfallträchtigen Fahrzuständen sind und wie leistungsfähig sie heute schon sein können. Auch die Tauglichkeit in der Fahrpraxis soll dabei untersucht werden.
Die Fahrversuche werden mit schweren Lkw (über 7,5 t) durchgeführt und durchlaufen dabei zwei Module. Im Praxismodul sollen Erfahrungen aus dem praktischen Umfeld von Lkw-Fahrern gewonnen, im Sicherheitsmodul die Fahrerassistenzsysteme überprüft werden.
Das Praxismodul findet auf freier Straße im Umfeld des ADAC Technikzentrums statt. Es wird hier auf einer Streckenlänge von ca. 30 km die Warnstrategie der Systeme in den Lkw untersucht: 15 km autobahnähnliche Straße und 15 km Landstraße.
Im Fokus steht die Umgebung der Fahrerkabine:
Wie oft und auf welche Weise wird eine Warnung ausgegeben?
Wie stark wird der Fahrer durch optische oder akustische Signale belastet?
Das Sicherheitsmodul wird auf einem Testgelände des ADAC Technikzentrums durchgeführt. Angelehnt an das Euro-NCAP-Testverfahren werden hier mehrere Szenarien abgeprüft.
Auffahren auf stehendes Hindernis (0 km/h); Lkw fährt 50-60-70-80 km/h
Auffahren auf langsam fahrendes Hindernis (20 km/h); Lkw fährt 50-60-70-80 km/h
Auffahren auf verzögerndes Hindernis (50 km/h; 6 m/s²); Lkw fährt 50 km/h, 40 m Abstand
Für die praktische Erprobung wurden drei Lkw-Marken gewählt. Hierbei sind die für Deutschland und Europa wichtigsten Marken MAN und Mercedes-Benz sowie Volvo Trucks als Hersteller mit einem hohen Anteil bei den Neuzulassungen von schweren Nutzfahrzeugen bestimmt worden.
Die Lkw-Modelle, die einen Überblick über den technischen Stand liefern, sind allesamt Sattelzugmaschinen, welche im Lkw-Fernverkehr eine sehr hohe Verbreitung haben. Es werden untersucht:
MAN TGX
Mercedes-Benz Actros
Volvo FH 540
Die Sattelauflieger werden jeweils mit Ballast beladen.